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Bewegungsfreiheit für alle!

Juni 2021

Ausländerbehörden verweigern die Durchführung des Landesaufnahmeprogramms Syrien

Seit 2013 gibt es in Thüringen ein Landesaufnahmeprogramm, nach dem hier lebende Syrer*innen Familienmitglieder aus Syrien oder aus den angrenzenden Ländern nachholen können. Sie müssen für den Unterhalt der Personen selbst aufkommen oder Verpflichtungsgeber*innen finden. Das Programm hat es vielen Familien ermöglicht, einander wiederzusehen und hat insbesondere älteren Personen, behinderten Personen oder allein zurückgebliebenen Geschwisterkindern die gefährliche Flucht über das Meer erspart. Dieses Jahr hat das Thüringer Innenministerium einen Erlass verabschiedet, der die Durchführung des Aufnahmeprogramms für die betroffenen Personen erleichtern sollte. Seit einiger Zeit jedoch stellen sich die meisten Ausländerbehörden quer und weigern sich schlichtweg, die Anträge bzgl. des Landesaufnahmeprogramms zu bearbeiten. Manchmal mit fadenscheinigen Begründungen, wie man müsse sich ja erst um die Menschen kümmern, die schon hier sind (dann lassen sie sie doch ihre Familie wiedersehen!?) und man habe gerade andere Prioritäten. Manchmal mit sehr deutlichen Aussagen, wie man wolle "nicht noch mehr Ausländer hier haben." Es wird von Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörden nicht mal mehr für nötig gehalten, ihre rassistische Praxis zu beschönigen. Anträge, die abgegeben werden, werden wochen- und monatelang nicht bearbeitet. Auf Nachfragen per E-Mail wird meistens nicht geantwortet. Bisweilen wurde von Mitarbeiter*innen, die nach wochenlangem Warten doch antworteten, behauptet, es sei nie etwas eingegangen. Rufen Ausländer*innen selbst bei der Ausländerbehörde an, werden sie unfreundlich abgewimmelt. Zur Klarstellung: Antragsteller*innen reichen alle benötigten Dokumente bereits ein (Vorhandensein von ausreichendem Wohnraum, Kontoauszüge, Passkopien etc.), diese müssen kurz geprüft werden, die Verpflichtungserklärungen unterzeichnet werden und dann ein OK an die zuständigen Botschaften gegeben werden. Kein besonders großer Arbeitsaufwand für die Ausländerbehörden also, insbesondere wenn man bedenkt, dass das für einige Personen bedeutet, ihre Eltern oder Geschwister nach über 6 Jahren endlich wiederzusehen. Auch ihre Vorgehensweise hat die ABH vor kurzem erst geändert. Früher bekam man direkt einen Termin, bei dem die Dokumente geprüft und die Verpflichtungserklärung unterschrieben wurde. Der Prozess wurde direkt in Gang gesetzt, während es heutzutage Monate dauert, bis sich der Antrag überhaupt zum ersten Mal angeguckt wird. Selbst in Zeiten einer Pandemie, in der alle Menschen viel Einsamkeit und Unsicherheit erfahren haben und es immer noch tun, geht die Ausländerbehörde nicht auf die Bedürfnisse und Ansprüche Geflüchteter Menschen ein und begegnet ihnen mit Ignoranz und Machtmissbrauch. Dabei haben die Menschen hier ein Anrecht darauf, ihre Verwandten aus der prekären Situation mit mangelhafter Gesundheitsversorgung zu befreien, und sie so nach Jahren wiedersehen zu können. Schließlich sorgten sich weltweit alle Menschen während der Pandemie um die Familie und hatten Angst vor einer Infektion und plötzlichen Komplikationen. Natürlich machen die Ausländerbehörden damit das, wozu sie geschaffen wurden – Ausländer*innen regulieren und kontrollieren, Repression ausüben und ihre Macht ausnutzen. Diejenigen, die einen guten Glauben an den „Rechtsstaat“ brauchen für ihr reines Gewissen, möchten wir dennoch dazu aufrufen, dafür zu sorgen, dass rechtstaatliche Bestimmungen auch durchgesetzt werden. Die Ausländerbehörden setzen sich darüber hinweg, was die Landesregierung beschlossen hat. Wir möchten alle Verantwortlichen dazu auffordern, auf die Ausländerbehörden Thüringens Druck auszuüben und klar zu vermitteln, dass die Durchführung des Landesaufnahmeprogramms höchste Priorität hat. Wir möchten die Landesregierung auffordern, weitere Landesaufnahmeprogramme einzuführen, diese mit geringeren Hürden zu gestalten und alle ihr möglichen Mittel zu nutzen, um Bewegungsfreiheit zu erleichtern. Gegen jede Abschiebung und für Bewegungsfreiheit für Alle!

Sommer 2020

Die Camps in Griechenland sind die europäische Lösung

Nachdem Heimatminister Horst Seehofer vor einer Weile die Zustimmung zum von Berlin geplanten Landesaufnahmeprogramm verweigert hat, hat er nun auch die entsprechenden Pläne Thüringens gestoppt (1). Nach langem politischem Kampf hatte die Thüringer Regierung beschlossen bis 2022 500 Personen aus den Camps auf den griechischen Inseln aufzunehmen. Es sollten besonders schutzbedürftige Menschen aufgenommen werden (2). Das wäre zwar schon ein Anfang gewesen, aber immer noch absolut nicht zufriedenstellend (obwohl natürlich der Einzelfall zählt). Außerdem ist immer fraglich, wer eigentlich mit „besonders schutzbedürftig“ gemeint sein soll. Normalerweise soll das heißen, wir wollen Frauen und kleine Kinder (aber wehe, sie sehen nicht klein und süß aus) (3). Warum junge Männer, die vor Krieg und bewaffneten Konflikten geflohen sind, nicht schutzbedürftig sein sollen, lässt sich nicht wirklich erschließen (Wo sind die Männerrechtsaktivisten, wenn man sie braucht?). Nach § 23 Abs. 1 AufenthG (Aufenthaltsgesetz) können die obersten Landesbehörden entscheiden, bestimmten Ausländer_innen aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Seehofer hat seine dafür erforderliche Zustimmung nicht erteilt. Ob er diese verweigern durfte, muss nun geprüft werden (4). Er möchte die „Bundeseinheitlichkeit“ wahren, wie es im § 23 Abs. 1 AufenthG auch vorgesehen ist. Außerdem hat er wiederum von dieser schon vielfach beschwörten „europäischen Lösung“ gesprochen. Sowohl die angeblich nicht gewahrte Bundeseinheitlichkeit als auch die europäische Einheit sind vorgeschobene Pseudo-Argumente. Eigentlich sogar verwunderlich, dass ein Mann, der die „Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme“ bis zur letzten Patrone (!) verteidigt haben will und sich darüber freut, wenn an seinem 69. Geburtstag 69 Personen nach Afghanistan abgeschoben werden, sich jetzt nicht wieder einfach hinstellt und offen und ehrlich sagt, dass er keine weiteren Flüchtlinge nach Deutschland kommen lassen will und dass sie lieber in den Camps in Griechenland verkommen sollen. Warum ergibt das Argument der Bundeseinheitlichkeit keinen Sinn? Zum einen hätte man auch einfach sagen können, dass, um die Bundeseinheitlichkeit zu wahren, alle Bundesländer ermutigt werden sollten, Personen aus den Camps aufzunehmen. Wie von der Seebrücke und durch die Kampagne „Wir haben Platz“ deutlich gemacht, gibt es in Deutschland tausende freie Betten (in Thüringen allein gibt es 8.000 freie Unterbringungsplätze (5) ) und insbesondere Kommunen, die sich zu Sicheren Häfen und damit ihre Aufnahmebereitschaft erklärt haben (6). Stattdessen ignoriert Seehofer die Länder und Kommunen. Zum zweiten gibt es schon Landesaufnahmeprogramme, die nur (noch) von einzelnen Ländern durchgeführt werden. So können z.B. in Thüringen, Schleswig-Holstein und Brandenburg Syrer_innen die Aufnahme von Familienmitgliedern beantragen, die sie über den regulären Familiennachzug nicht oder nur schwer nachholen können (z.B. volljährige Kinder oder Großeltern). Das liegt daran, dass die meisten Bundesländer ihre Aufnahmeprogramme, die es ursprünglich überall gab außer in Bayern, nicht verlängert haben. Außerdem wurde der § 23 Abs. 1 AufenthG ja gerade dafür geschaffen, dass die Länder eigenständig Aufenthaltserlaubnisse ausstellen können. Der Kritikpunkt, dass die Verfahren sich von denen des Bundes unterscheiden könnten, verkennt demnach die Idee dieses Paragraphen. Nach dem Bundesaufnahmeprogramm, auf das Seehofer als Rechtfertigung verweist, will Deutschland 350 minderjährige Kinder aufnehmen (7). Warum ist das vermeintliche Abwarten einer europäischen Lösung nur vorgeschoben? Es gibt wenige Themen, über die sich die EU-Staaten so uneinig sind, wie über Migration. Wenn Seehofer also warten möchte bis darüber Einigkeit herrscht, meint er eigentlich, dass er die aktuelle Situation eigentlich gar nicht so schlimm findet (was keine große Überraschung ist) und am liebsten noch einige Jahre vergehen lassen möchte, bis sich womöglich irgendetwas tut. Was allerdings noch viel wichtiger ist: Es gibt schon eine europäische Lösung. Die Camps auf den Inseln existieren nicht (nur) wegen Versagens des griechischen Staates, sondern wegen des von der EU-Kommission erdachten EU-Türkei-Deals (8). Die Camps, wie sie jetzt sind, sind das Ergebnis einer gesamteuropäischen „Lösung“, von der andauernd behauptet wird, es gäbe sie nicht. Diese Lösung sieht vor, dass eigentlich alle Menschen, die auf den Inseln ankommen, zurück in die Türkei geschickt werden sollen, weil es da angeblich so sicher ist. Dabei ist es ein ziemlich offensichtlicher Widerspruch, die Türkei einerseits auf keinen Fall in die EU aufnehmen zu wollen wegen Menschenrechtsverletzungen etc., andererseits das Land als sicher genug für Geflüchtete zu erklären. In der Realität wurden seit 2016 nur etwas über 2000 Personen in die Türkei zurückgeschickt (9), weil trotz der Einordnung als „sicherer Drittstaat“ das Non-Refoulement-Gebot (10) beachtet werden muss und sich merkwürdigerweise bei den allermeisten Menschen in einer individuellen Prüfung herausgestellt hat, dass es in der Türkei doch gar nicht so sicher für sie ist. Kaum jemand darf also tatsächlich in die Türkei abgeschoben werden, die Verfahren auf den Inseln dauern meist viel länger als höchstens 6 Monate, wie eigentlich vorgesehen, und trotzdem müssen die meisten Asylbewerber_innen während des gesamten Verfahrens auf den Inseln ausharren. Der finanziell schlecht dastehende Staat Griechenland schafft es dabei nicht, die Menschen anständig zu versorgen. Spätestens seit der Wahl der neuen rechtskonservativen Regierung im Jahr 2019 fehlt zudem der politische Wille. Es sollte also nicht davon gesprochen werden, dass nordeuropäische Staaten aus reiner Wohltätigkeit Griechenland oder den „armen Menschen auf den Inseln“ nur ein bisschen helfen müssen und dann wäre alles gut. Die Camps auf den Inseln sind zum einen gerade dafür geschaffen worden abzuschrecken und den Personen aufzuzeigen, dass ihre Menschlichkeit hier nichts wert ist. Zum anderen können die meisten Personen seit der Einführung von „carrier sanctions“ (11) nur noch auf dem Land- bzw. Seeweg nach Europa kommen und landen zwingenderweise überwiegend in Italien, Spanien oder Griechenland. Das Dublin-System (12) ist so aufgebaut, dass quasi niemand in die nord- und westeuropäischen Staaten kommen darf, die meisten dort gestellten Asylanträge zunächst wegen Unzulässigkeit abgelehnt werden und die Betroffenen dem Risiko ausgesetzt sind, nach Italien, Spanien oder Griechenland abgeschoben zu werden. Unglücklicherweise herrscht selbst unter Personen, die für legale und sichere Fluchtrouten propagieren, häufig das Missverständnis, es gäbe im Dublin-System europäische Verteilungsschlüssel. Oft wird davon geredet, es müssten mehr Personen als durch die Quote vorgesehen, aufgenommen werden. Dabei ist sehr wichtig zu wissen, dass es eine solche obligatorische Quote nicht gibt. Es gibt in der Dublin-III-Verordnung keinen Verteilungsschlüssel, nach dem Personen, die in südeuropäischen Staaten ankommen, in den Norden verteilt werden. Nicht falsch verstehen: Wir wollen keinen Verteilungsschlüssel, sondern Bewegungsfreiheit für alle 😊. Übrigens: Viele der Personen, die sich nun in Griechenland in den Camps befinden, haben Familienmitglieder in europäischen Ländern, zu denen der reguläre Familiennachzug verweigert wurde. Wenn Seehofer tatsächlich so an einer regulären Einreise interessiert ist, warum setzt Deutschland dem so hohe Hürden, die es den Menschen vielfach unmöglich macht, ihrer Familie mit einem Visum nachzureisen (13)? Es ist allerdings nicht ausreichend, allein Seehofer als den Unmenschen zu bezeichnen, der er ist. Auch die Aufnahme von 300 Personen durch Berlin und von 500 Personen durch Thüringen wäre zwar für die betroffenen Menschen womöglich eine große Erleichterung gewesen, hätte aber an dem grundsätzlich problematischen Dublin-System nichts geändert. Allein, dass es Ewigkeiten gedauert hat, sich in einem rot-rot-grün regierten Land auf die Aufnahme von 500 Menschen bis 2022 (also weniger als 200 pro Jahr) zu einigen, ist sehr traurig. Seit einer Weile werden auf den Inseln geschlossene Camps gebaut. Kürzlich hat die Europäische Kommission dafür 130 Millionen Euro bewilligt (14). Diese Camps werden die Bewohner_innen nicht verlassen dürfen. Während es z.B. für die Camp-Bewohner_innen auf Samos momentan noch möglich ist, in der Stadt einzukaufen, an den Strand zu gehen und sich zumindest auf der Insel frei zu bewegen, geht das bald nicht mehr. Die Menschen sollen zukünftig in einem abgeschiedenen geschlossenen Camp untergebracht werden. Unter anderem deshalb, ist es falsch, davon zu reden, die EU würde „ihre Augen verschließen“ oder von der Situation hier einfach nicht genug mitbekommen. Die EU verschließt nicht die Augen, sondern hat aktiv beschlossen, dass die Personen, die auf den griechischen Inseln ankommen, am liebsten in die Türkei zurückgebracht werden oder mindestens in geschlossenen Camps ihre Lebenszeit absitzen sollen. Auch wenn es ein Skandal ist, dass Seehofer die Landesaufnahmeprogramme stoppt bzw. versucht zu stoppen, bringt es nichts, wieder einmal eine einzelne Person in den Fokus aller Kritik zu stellen, dessen politische Einstellung bereits bekannt ist und dessen Entscheidung daher nicht überrascht. Vielmehr muss die Europäische Union in den Fokus der Kritik geraten, welche durch ihre Politik für die Entstehung solcher menschenunwürdigen Umstände an den Außengrenzen, von denen die griechischen Lager nur ein Aspekt sind, verantwortlich ist. Es müssen daher nicht nur die Landesaufnahmeprogramme durchgesetzt werden, sondern gleichzeitig die Lager aufgelöst und bedingungslose Bewegungsfreiheit für ALLE geschaffen werden. (1) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/thueringen-fluechtlinge-100.html. (2) https://justiz.thueringen.de/aktuelles/medieninformationen/detailseite/28-2020/. (3) https://twitter.com/drumheadberlin/status/1250494338213306369. (4) https://www.fluechtlingsrat-thr.de/aktuelles/news/seehofer-keine-zustimmung-zum-th%C3%BCringer-landesaufnahmeprogramm-griechenland. (5) Siehe Thüringer Zuwanderungs- und Integrationsbericht 2019, S. 91 (https://www.thueringen.de/mam/th10/ab/zuwanderungs_und_integrationsbericht_2019.pdf). (6) https://seebruecke.org/sichere-haefen/ueberblick/. (7) https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2020/04/ankunft-kinder-grc.html. (8) https://www.proasyl.de/thema/eu-tuerkei-deal/. (9) https://data2.unhcr.org/en/documents/details/74125. (10) Das völkerrechtliche Non-Refoulement-Gebot besagt, dass niemand in einen Staat zurückgeschickt werden darf, in welchem ihr oder ihm Folter oder andere schwerwiegende Menschenrechtverletzungen drohen. (11) Carrier sanctions sind staatlich auferlegte Geldstrafen für Flugunternehmen, die Personen in ein Land bringen, für das sie kein Visum haben. (12) Die Dublin-III-VO (europarechtliche Verordnung) bestimmt, welcher EU-Staat für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist. (13) Siehe z.B. https://archive.newsletter2go.com/?n2g=d9mqa3iv-skgb59g5-rva. (14) https://greece.greekreporter.com/2020/08/03/eu-approves-130-million-euros-for-refugee-facilities-on-greek-islands/.

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